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Caroline Roeder
Die Werke Otfried Preußlers zählen zum Kanon deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur, sie sind Kinderbuchklassiker. Mit seinem kinderliterarischen Werk, das er ab den 1950er-Jahren verfasste – Der kleine Wassermann (1956), Die kleine Hexe (1957), Das kleine Gespenst (1966), Der Räuber Hotzenplotz (1962) oder der Jugendroman Krabat (1971) – um nur einige seiner Megaseller zu nennen, eroberte er ein breites Lesepublikum. Ein umfänglicher Medienverbund flankiert die erfolgreichen Werke, die in viele Sprachen übersetzt vorliegen. Neben dem weltweiten Publikumserfolg wird Preußlers Werk auch von der Fachwissenschaft gewürdigt, vor allem in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Forschung weiterentwickelt, greift auch Desiderata auf und nimmt das Gesamtwerk in den Blick (vgl. Weinmann 2023).
2013 gerieten Preußlers Texte im Rahmen der sogenannten Kinderliteraturdebatte, die Autor:innen wie Astrid Lindgren oder Michael Ende gleichermaßen einbezog, erstmals in eine medial emotional geleitete Diskussion. Im Zentrum stand hier die Frage, inwieweit kinderliterarische Texte eine sprachliche Überarbeitung erfahren sollten. Es ging um gesellschaftlich nicht mehr anerkannte Begriffe wie das N*-Wort. (Vgl. Greiner 2013) Diese Fragestellung wird seitdem regelmäßig angestoßen, insbesondere wenn Verlagshäuser Klassiker-Autor:innen in Neuausgaben mit sprachlich adaptierten Begrifflichkeiten oder Topographien auf den Markt bringen.
Anlässlich des 100. Geburtstags 2023 wurde Otfried Preußler mit verschiedenen populären wie wissenschaftlichen Veranstaltungen und Publikationen geehrt. So gab es z. B. eine große Ausstellung in der Staatsbibliothek zu Berlin, wissenschaftliche Tagungen an der Humboldt-Universität und in Preußlers Geburtsstadt Reichenberg wie auch Publikationen, die sich fachwissenschaftlich mit dem Autor und seinem Werk befassen. (Vgl. Benner/Weinmann 2023)
In dieser zeitlichen Rahmung stand auch die Verlautbarung eines bayerischen Gymnasiums, des Otfried Preußler-Gymnasiums im bayerischen Pullach, das nach fünfjähriger Recherche in einem schulischen Projekt an die Öffentlichkeit trat und bekundete, den Namenspatron nicht weiter führen zu wollen. Hintergrund für die aktuelle Forderung der Schule ist die Haltung des Autors zu seiner Jugendzeit, in der er Mitglied der Hitlerjugend war und überzeugt der NS-Ideologie folgte. (Vgl. Josting 2023) Nicht die Involvierung in den NS stand zur Debatte, sondern die fehlende Offenlegung nach 1945 und der hieraus abgeleitete Verlust als Vorbildfunktion für junge Schüler:innen heute. Der mediale Tsunami, der dieser Verlautbarung aus dem bayerischen Städtchen folgte, ist nicht nur für interessierte Beobachter:innen sozialer Medien und ihrer Fieberkurven ein besonderes Fundstück. Es lohnt sich nicht, die einzelnen Publikationsorgane hier aufzuzählen, da nahezu alle deutschsprachigen Gazetten (von der Augsburger Allgemeinen bis zur ZEIT, von der FAZ bis zur NZZ) das Thema aufgriffen, kommentierten und mal mehr oft weniger sachlich und fachlich die nahezu immer selben Fakten medial aufbereiteten.
Wie diese Debatte ausgestaltet wurde, wer sich hier mit welchem Interesse zu Wort meldete oder sich im Scheinwerferlicht des Spektakels drehte, ist sicher medienwissenschaftlich eine Untersuchung wert. Interessant erscheint aber vielmehr, den Hexenkessel der überhitzten Diskussion nicht weiter bis zum Überkochen anzuheizen, sondern mit großer Gründlichkeit hieraus die wesentlichen und fachlich zu nennenden Aspekte zu extrahieren und einer sachlichen Diskussion zur Verfügung zu stellen.
Hierfür wurde eine Bibliographie erstellt, um sich in das Preußler-Thema fachwissenschaftlich einzulesen. Den Auftakt macht ein Beitrag zu dem NS-Jugendroman von Otfried Preußler Erntelager Geyer sowie ein Beitrag, der eine literaturgeschichtliche Einordnung bietet und open access, d. h. zum freien Download zur Verfügung steht.
Sekundärliteratur
Bibliographische Angaben zur Zitation des Textes
Roeder, Caroline: Mediales Mühlengeklapper. Die Otfried Preußler-Debatte 2024. Abrufbar unter: https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/einrichtungen/zentrum-fuer-literaturdidaktik-kinder-jugend-medien-zeld/debatte
Caroline Roeder Professorin für Literaturwissenschaft/Literaturdidaktik an der PH Ludwigsburg, Leiterin des Zentrums für Litearturdidaktik Kinder Jugend Medien (ZeLd). Arbeitsschwerpunkte: Kindheit und Jugend erzählende Gegenwartsliteratur, DDR-KJL und Literatur nach 89|90, Topographieforschung, Repräsentationen von Arbeit, politische Kinder- und Jugendliteratur. Homepage.
Petra Josting
Der Roman Erntelage Geyer wurde 1944 im Berliner Verlag Junge Generation veröffentlicht, geschrieben hat ihn der bekannte Kinderbuchautor Otfried Preußler.[1] Schon als junger Mann zeigte er literarische Ambitionen und verfasste den Text nach eigener Aussage im Winter 1940/41, also als 17-jähriger Schüler.[2] Die Existenz dieses Textes ist einer breiten (Fach-)Öffentlichkeit erst seit 2015 bekannt (vgl. Becher 2015; Hall 2016), gleichwohl wird er viele Jahre zuvor in einer Dissertation in der DDR genannt (Japé 1988) und ist 2005 Thema im Handbuch Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945 (vgl. Hopster 2005).
Interessant ist für die Bewertung des Romans, dass er bereits vor der Drucklegung Anerkennung und Aufmerksamkeit erfuhr. So äußerte sich der sudetendeutsche Schriftsteller Robert Hohlbaum, ein völkischer Autor bzw. einer der meistgelesenen NS-Schriftsteller der Zwischenkriegszeit (vgl. Sonnleitner 1989), über dieses Erstlingswerk in der Weihnachtsausgabe 1941 der NSDAP-Zeitung Die Zeit, in der Gedichte des jungen Preußler vorgestellt wurden:
„Als ich ihn kennen lernte, wußte ich noch nicht, daß er ein Dichter sei. Ich merkte es auch nicht. Denn dem frischen Burschen, der sich eben im freiwilligen Arbeitsdienst Schwielen an den Händen geholt hatte, der im März sein Abitur machen soll und nur noch den dringenden Wunsch hegt, möglichst bald Soldat zu werden, haftete so gar nichts vom Ästheten und Träumer an, er steht mit beiden Füßen im Leben, von dem ein demnächst erscheinendes Prosabuch Kunde geben soll. Ich habe es gelesen, es ist eine hübsche, eine sehr große Talentprobe.“ (Hohlbaum 1941)
Diese positive Einschätzung beruht sicherlich nicht nur darauf, dass Hohlbaum ein Bekannter der Familie Preußler war, sondern auch auf den ideologischen Implikationen des Textes. Nicht uninteressant ist ebenso, dass sich in Erntelage Geyer autobiografische Bezüge erkennen lassen, denn Preußler war im Sommer 1939 selbst Führer eines Erntelagers mit sog. Pimpfen. Der Roman ist durchgängig von NS-Ideologemen durchzogen, die die kameradschaftliche abenteuerliche Handlung der jugendlichen Protagonisten keinesfalls nur dekorieren. Nachweislich findet man folgende Idelogeme: Blut-und-Boden, Führer-Gefolgschaft, Großdeutsches Reich, Grenzlandthematik, Kampf, Kameradschaft (vgl. Becher 2015, Hall 2016, Josting 2023, Spreckelsen 2023, 48 ff.). Der junge Otfried Preußler erweist sich mit diesem Buch als NS-affiner Autor. Im Bundesarchiv findet sich sein Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer vom 09.09.1942. Die Frage nach der Mitgliedschaft in der NSDAP im Fragebogen beantwortete er mit „ja“, setzte dahinter noch ein Ausrufezeichen und gab auch die Mitgliedsnummer an. Im beiliegenden Lebenslauf vom 26.08.1942 heißt es dazu: „Seit Sept. 1941 bin ich Parteimitglied.“[3]
Die NS-Affinität des jungen Otfried Preußler (vgl. Lange 2015, 85) und seines Erstlingswerks wurde auch auf zwei Tagungen diskutiert, die anlässlich seines 100. Geburtstages im letzten Jahr in Berlin und Liberec (dt.: Reichenberg) stattfanden. Geehrt wurde Preußler außerdem mit zahlreichen Ausstellungen, u. a. mit einer in der Staatsbibliothek zu Berlin unter dem Titel Der Mensch braucht Geschichten. Die Fachcommunity ist sich im Hinblick auf die NS-Affinität von Preußlers Erstlingsbuch einig, offenbar bis auf den Kollegen Carsten Gansel, der eine Biografie über den Autor verfasste und fast mantrahaft wiederholt, man könne nicht sagen, dass im Erntelager Geyer „die ideologische Färbung überhand gewinne,“ (Gansel 2024a), sie sei im Gegenteil „eher gering“ (Gansel 2024b). Verwiesen sei an dieser Stelle auf Rezensionen zu Gansels Preußler-Biografie, in denen es heißt, hinsichtlich der frühen Jahre handele es sich stellenweise „um ein ziemlich fragwürdiges Buch“ (Becher 2022, 177). Die Rede ist auch von „einer unzureichenden Einbettung in die komplexen historischen Rahmenbedingungen, in denen sich Preußler gerade in seinen jungen Jahren bewegte“, wie bei Zimmermann (2022) nachzulesen ist, der ebenso Gansels Bewertung des Erntelagers kritisiert. Und was das Relativieren des Biografen betrifft: Unzweifelhaft waren viele Deutsche in der NSDAP, aber längst nicht alle, worauf auch der Rezensent Maidl (2023) verweist.
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Archivquellen
[1] Die Familie führte erst ab 16.12.1941 den Familiennamen Preußler, zuvor den Namen Syrowatka, wie der Akte der Reichsschrifttumskammer des Vaters Josef Preußler zu entnehmen ist, Bundesarchiv, R 9361-V 9501 Josef Preußler.
[2] Diese Aussage befindet sich im Lebenslauf (Akte der Reichsschrifttumskammer) vom 26.08.1942, Bundesarchiv, R 9561-V 9502 Otfried Preußler.
[3] Vgl. ebd.
Bibliographische Angaben zur Zitation des Textes
Josting, Petra: Otfried Preußlers NS-Jugendbuch Erntelager Geyer [1944]. Abrufbar unter: https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/einrichtungen/zentrum-fuer-literaturdidaktik-kinder-jugend-medien-zeld/debatte#_ftn1
Petra Josting Dr. phil. habil, ist Professorin i. R. für Germanistische Literaturdidaktik sowie Kinder- und Jugendliteraturforschung an der Universität Bielefeld/ Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Historische Kinder- und Jugendliteraturforschung, u. a. NS-Forschung.
Andrea Weinmann
Der Text erschien erstmals in kjl&m 13/3. Er steht unter folgendem Link zum freien Download bereit:
Bibliographische Angaben zur Zitation des Textes
Weinmann, Andrea: Otfried Preußler und die neue Autorengeneration. In: kjl&m 13/3. Was gibt’s Neues? Otfried Preußler und die Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre. 2013, 3-13.
Dr. Andrea Weinmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945 und ihre Geschichtsschreibung, über die sie auch promoviert hat. Über das Werk von Otfried Preußler und James Krüss hat sie einige Beiträge verfasst.
Auf KinderundJugendmedien.de findet sich ein weiterer, lesenenswerter Beitrag zur Thematik.