Zum Seiteninhalt springen

Buchempfehlungen

Jeden Monat stellt die STUBE, Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (Wien), ein besonderes Kinder- und Jugendbuch aus der aktuellen Produktion vor.

Weitere Informationen zur STUBE: www.stube.at

Dort sind auch alle Kröten der vergangenen Monate zu finden.

Mit herzlichem Dank an die STUBE-Redaktion, die uns die Inhalte zur Verfügung stellt.

Kröte im Juni 2024

Kim Fupz Aakeson und Stian Hole: Dinge, die verschwinden

Was nicht (mehr) da ist:

Eine beträchtliche Anzahl linker Socken. (Von der Waschmaschine gefressen) 
Meine Großeltern. 
Schulterlange Locken.
Die Glaubwürdigkeit von Spitzenkandidat*innen. 
Meine Taschenuhr. (Gestohlen) 
Eine Kröte des Monats.

Was davon wird vermisst?
Und was davon taucht wieder unter jenen Fundsachen auf, die Stian Hole mit so viel Liebe zum Detail ins Bild setzt: Alte Bilder und Teddybären sind hier zu finden; Weihnachtsmann-Masken und Charly Chaplin- Statuen, Blechblasinstrumente und Bücher; nochmals Bücher und Brillenfassungen, Hüte und ausgelatschte Chucks - und ja natürlich kleinste Dinge, die man schon einmal in Stian Holes Bilderbüchern entdeckt hat (und die zum Teil am Vorsatzpapier aus anderen Bildwelten hierher verfrachtet werden …). Sie alle werden als Collagen aus Fotos und Zeichnungen in seinen unendlich vielschichtigen digitalen Illustrationen miteinander arrangiert. 

Der vorerst namenlose Ich-Erzähler aber marschiert an all dem Zauber der Bilderbuch-Requisite vorbei. Denn er sieht in einer angeräumten Welt nur jene Leerstelle, die Bosse hinterlassen hat. Kontrapunktisch zu allem, was in den Bildern gefunden werden will, bewegt er sich durch das titelgebende Verschwinden. Ja mehr noch: Seine Geschichte ist eine Erprobung all dessen, was unter dem Verschwinden verstanden werden kann - gespiegelt auf eine sprachliche, eine räumliche und eine emotionale Ebene. 

Was ist passiert? 
Bosse ist passiert. 
Oder genauer gesagt, Bosses Vater ist passiert. Ein wie aus der Zeit gefallen wirkender Manager-Typ mit gelbem Stecktuch, Handy am Ohr und Kristallglaskaraffe für das abendliche Likörchen am Schreibtisch. An der Wand seines australischen Büros ein Elchgeweih, denn er stammt aus Schweden. Aber das Shipping- Business hat ihn von Norwegen nach Perth, Australien verschlagen. Das sei ihm grundsätzlich unbenommen (auch wenn man sich natürlich fragt, ob es all dieser über die Weltmeere geschipperten Waren bedarf …), wäre da nicht sein Sohn: Bosse. Ein verwegener Typ mit wildem Blick, schiefem Schneidezahn und damit einer Zahnlücke, die bereits jenen Abgrund an Leere vorwegnimmt, mit der Kim Fupz Aakesons Bilderbuchtext einsetzt:


Bosse ist nicht mehr da.


Was vorerst wie eine Feststellung wirkt, wird in den Folgesätzen emotional aufgeladen:

Das macht mich ganz, ganz traurig. Ich vermisse ihn ganz, ganz doll.


In den Fokus gerückt wird also ein kindlicher/jugendlicher Schmerz, der an jenen von Dunne erinnert - jene wunderbare Figur von Rose Lagercrantz und Eva Eriksson, deren beste Freundin Ella-Frieda am Beginn der unerreicht liebenswerten Kinderbuch-Serie (erschienen im Moritz-Verlag) rund ums glückliche Leben wegzieht. 

Auch Bosse zieht weg. Er wird sozusagen nach Australien verschifft - und bereits das Vor- und Nachsatzpapier rahmt die unendliche Weite, die nun zwischen Bosse und dem Ich-Erzähler liegt. 

Doch so groß kann die Entfernung gar nicht sein, dass Bosse nicht weiterhin das Denken, Fühlen und Wahrnehmen des Ich-Erzählers bestimmen würde. Denn Bosse ist nicht irgendein Freund, der coole Bosse geht einem unter die Haut:

Wenn wir uns im Unterricht gelangweilt haben, hat er mir ins Ohr gepustet, das hat bis in die Zehen gekribbelt. 


Nun bleibt der Ich-Erzähler im Unterricht zurück und in die Denkblasen der anderen Kinder/Jugendlichen mischt sich das Buddy-Bild, das ihn mitten im Klassenverband nur umso einsamer erscheinen lässt. Anna (ja, DIE Anna) wird im Hintergrund gerade ein Zopf geflochten. Sie hätte sicher einiges dazu zu sagen, was es heißt, jemanden zu vermissen. Doch inmitten all der anderen, die beste Freund*innen haben und sich später am Schulhof-Wimmelbild schaukelnd und hüpfend und von der Klopfstange hängend pärchen- und grüppchenweise vergnügen, kann der Ich-Erzähler einfach nur verlassen herumstehen. 
Auch die Bild-Anleihe an Pieter Bruegels Kinderspiele greift jene Differenz zwischen der mit Dingen angefüllten Wirklichkeit und der inneren Leere auf, mit der das Ich kämpft. In anderen Illustrationen wird die Leere auch räumlich sichtbar - dort zum Beispiel, wo das Haus, aus dem Bosse weggezogen ist, eigentlich erst gesucht werden muss; denn bildbestimmend ist der nebelige Regenhimmel zwischen den Häuseransammlungen am Schulweg. 
Oder dort, wo der Ich-Erzähler seinen Opa im Altersheim besucht und der geometrisch angelegte klinisch-weiße Gang jenes Verschwinden spiegelt, das den Opa umgibt: 

Manchmal nennt er mich „Johann“.
Manchmal nennt er mich „Larsi“.
„Manchmal nennt er mich „Hans“. 
Manchmal nennt er mich „Du Räuber“. 

Opas immer frappanter werdende Erinnerungslücken sind Teil jener Suche nach den Varianten des Verschwindens, auf die der Ich-Erzähler sich begibt. Und einmal mehr schafft Stian Hole es dabei, Körperlichkeit in seinem hyperrealistischen Stil radikal ins Bild zu setzen, zu irritieren und zu berühren, wenn der Opa an anderer Stelle in seiner Alters-Hilflosigkeit auf sein Keks zum Kaffee blickt und wohl eigene Erinnerungen abzurufen versucht. Verschwunden. 

„Warst du traurig, als Oma nicht mehr da war?“


Die Frage stellt der Ich-Erzähler nicht dem Opa, sondern der Mutter, die mit ihrer Traurigkeit auf ihre eigene Weise umgeht - ganz genau so wie der Vater, der Gefühle mich einem prosaischen „Ach, weißt du“, überdeckt (und dabei eine neue Schicht Farbe auf die Wand des Schuppens streicht). 


„Ach, weißt du …“


Wird das auch Bosse zu einem neu gefundenen Freund in Perth, Australien sagen, wenn er auf den in Norwegen zurückgebliebenen Freund angesprochen wird? 
Obwohl Stian Hole eine moderne Medienwelt ganz selbstverständlich in seine Bildsprache integriert, stellt er die andauernde Verbindung zwischen den beiden Freunden nur zeichenhaft her: 
Am Innentitel findet man ein aufgeklapptes Mini-Taschenmesser. Ein Fundstück? 
Beim genauen Hinsehen erkennt man im Büro von Bosses Vater den Jungen, der unter dem wuchtigen Schreibtisch hockt. Neben ihm: das Taschenmesser. Erst die Bild-Text-Interdependenz vermag seine besondere Rolle aufzulösen: 

Ich denke an alles, was nicht mehr da ist:
Oma (sie ist tot, dann ist man wirklich weg).
Opas Haare. 
Sein Gedächtnis.
Sein Auto (ein silberfarbener Toyota).
Bosse.
Kakao (mein Zwerghamster, er ist auch tot). 
Meine Sporttasche.
Papas Fahrrad (es wurde vorm Einkaufszentrum geklaut). 
Acht von meinen Milchzähnen.
Mein kleines Taschenmesser. 

Nur in einer Kinderwelt vermag das Vermissen so unterschiedlicher Dinge in dieser Gleichwertigkeit zu bestehen, die Kim Fupz Aakeson in seinem unprätentiösen und dennoch sensitiven Stil zum Ausdruck bringt (und der mit Ina Kronenbergers sprachsensibler Unterstützung seinen Weg ins Deutsche schafft). Stian Hole inszeniert diese zentrale Textpassage in einer auf einer erdbeerknallrot grundierten Doppelseite, auf der er den Deckel einer weißen Schachtel zur Seite schiebt und den Blick auf das wohl rührendste Hamstergrab der Bilderbuchgeschichte preisgibt. (Es handelt sich wohlgemerkt um einen mit einem Orden am Bande ausgezeichneten Hamster!) Dieses Rot prägt (in ein wenig dunklerer Schattierung) auch den Bucheinband, der mit Cover und Rückseite eine Bewegung aufgreift - ein lebensbestimmendes Hin und Her zwischen einem Ich und dem Miteinander von Ich und Du. 
Das Du geht dem Ich-Erzähler verloren. Bosse ist nicht mehr da. Eines Tages jedoch taucht ein neues Gesicht dort auf, wo Bosse gewohnt hat. Vorerst noch hinter einer Fensterscheibe vermag es keine (Zahn-) Lücke zu füllen; es vermag mit seinen Grimassen aber den Blick des Ich-Erzählers auf sich ziehen - und damit einen neuen Fokus in dessen Leben zu etablieren: 

Ich denke an alles, was verschwunden ist. Und überlege: Vielleicht findet man ja auch was Neues. 

Das neue Du bringt auch das Ich neu hervor: Mit noch unsicher in die Luft geschriebenen Buchstaben nimmt der Ich-Erzähler Kontakt auf und nennt dabei am Ende des Buches erstmals seinen Namen, der bis dahin ebenfalls verschwunden schien: Axel.  

Rezension von Heidi Lexe