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Buchempfehlungen

Jeden Monat stellt die STUBE, Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (Wien), ein besonderes Kinder- und Jugendbuch aus der aktuellen Produktion vor.

Weitere Informationen zur STUBE: www.stube.at

Dort sind auch alle Kröten der vergangenen Monate zu finden.

Mit herzlichem Dank an die STUBE-Redaktion, die uns die Inhalte zur Verfügung stellt.

Kröte im Oktober 2024

Sara Lundberg: Der Vogel in mir fliegt, wohin er will

Egal, ob Birdie oder Mauser – der (Jung-)Vogel dient der Kinder- und Jugendliteratur als beliebte Metapher für den kindlichen/jugendlichen Freiheitsdrang. Gemeint ist damit kein zeitgeistiges Motiv einer ausschließlich dem Egoismus dienenden Freiheit, sondern der kindliche/jugendliche Wunsch, die eigene Wesenhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Mit dem aufgeregten Flattern junger Vögel, die endlich die gesamte Spannbreite ihrer Flügel entfalten wollen, werden vielfach empathische Figuren charakterisiert, die an sozialen Zwängen, biografischer Vorbestimmtheit und normativem Denken zu scheitern drohen. 
Im Fall von Berta ist es das Aufwachsen auf einem schwedischen Bauernhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dem rauen, von der körperlichen Arbeit bestimmten Alltag steht Bertas Wunsch gegenüber, ihrer Weltwahrnehmung kreativen Ausdruck zu verleihen. Berta zeichnet, formt kleine Vögel aus Ton, macht all dies ihrer Mutter zum Geschenk:

Sooft ich kann, bin ich in Mamas Zimmer.
und wenn Papa nicht aufhört, nach mir
zu rufen, antwortet sie manchmal:
„Daniel, lass sie ihr Bild fertig malen!“
Dann widerspricht er ihr nicht.
ich denke, dass all diese Dinge –
meine Zeichnungen
und die Vögel aus Ton, alles,
was ich mit meinen Händen forme –
sie am Leben halten.
Sie gesund machen.

Die schwedische Illustratorin Sara Lundberg, von der in diesem Bücherherbst mit „Tauschsommer“ (Karl Rauch Verlag) und „Niemand außer mir“ (limbion) auch zwei weitere Bücher den erstmaligen Weg in den deutschsprachigen Raum geschafft haben, setzt die Szene berührend ins Bild: Die Farben der Bettdecke mit ihrem Blümchenmuster wirken hell und hoffnungsfroh, die Mutter blickt vom Bett aus auf eine kleine Galerie an Zeichnungen, in denen immer wieder das Motiv des Vogels aufgegriffen wird. Berta liegt selbstvergessen auf dem Boden vor dem Bett und malt ihr Bild. Unendlich friedlich erscheint diese Szenerie und für einen Moment scheint die Brüchigkeit eines Lebens aufgehoben. Doch die Krankheit der Mutter lässt sich nicht verleugnen und auch Berta und ihre Schwestern müssen aufgrund der Ansteckungsgefahr regelmäßig zur Kontrolle. Wenig später spiegelt sich daher die Verletzlichkeit der Mutter in jener von Berta selbst: Das Stethoskop in den kühlen und rauen Händen des Doktors erforscht Bertas Lungenflügel. Mit scheuem Blick muss Berta sich selbst preisgeben, während die langen Haarsträhnen über ihre nackten Schultern fallen.
Es sind intime Momente wie diese, an denen die Besonderheit in Sara Lundbergs Erzählen in Text und Bild sichtbar wird. Sie arbeitet mit Aquarell, lässt Farben zerfließen und einander an manchen Stellen überlagern; sie arbeitet aber auch mit deckenden Farben, wechselt zu Collagen, legt Bildelemente flächig übereinander, um dann wieder zu impressionistisch anmutenden Stimmungsbildern zu wechseln. Die Illustrationen erhalten damit einen aus der Zeit gefallenen Charakter und sind doch ganz zeitgemäß; sie erinnern an die künstlerischen Studien jugendlichen Lebens im Werk des österreichischen Künstlerpaares Muntean/Rosenblum, aber auch an jene kunsthistorischen Traditionen, die explizit zitiert werden. Und sind nicht zuletzt beeinflusst von der schwedischen Malerin Berta Hansson. Denn es sind die Kindheitsgeschichte, die Biografie, die Briefe, Tagebücher und Bilder der so lange weitgehend unbekannten schwedischen Malerin, auf die Sara Lundberg für ihre Geschichte zurückgreift.

Wie die Ich-Erzählerin Berta stammte auch Berta Hansson von einem Bauernhof im schwedischen Hammerdal und musste schon in jungen Jahren gemeinsam mit ihren Schwestern die an Tuberkulose erkrankte (und verstorbene) Mutter in der schweren Arbeit im Haus und am Hof ersetzen. Das Zeichnen wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Spleen.
In ihren knappen, poetischen Text-Passagen greift Sara Lundberg Bertas Wunsch zu Zeichnen als etwas auf, das uns Betrachter*innen vertraut scheint; Berta selbst aber machen diese künstlerischen Avancen stets aufs Neue zum Fremdkörper im jämtländischen Umfeld. Egal, ob es die Karotten sind, die sie nicht wie alle anderen in der Schule akkurat mit Wachsmalstift ausmalt, oder ihr Versuch, Michelangelos göttlichen Fingerzeig nachzumalen, für den sie verspottet wird – Berta wird verlacht und dafür ausgeschimpft, weil sie nicht macht, was man ihr sagt. Doch so wie bei Michelangelo Eva hinter Gottes Rücken erkennbar wird, versucht auch Berta ihren Traum vom Zeichnen hinter dem gelebten Leben hervorzuholen. Letztlich durch einen Akt des Widerstandes ...

Berta Hanssons Bildern entnimmt Sara Lundberg für ihr biografisch inspiriertes Erzählen Stimmungen, Blickwinkel, Figuren oder aber das Motiv der Hände. Denn wie eine schwedische Maria Lassnig des frühen 20. Jahrhunderts fokussiert auch Berta Hansson in vielen ihrer Bilder auf die Körperlichkeit ihrer Subjekte – insbesondere auf deren Hände.
So nimmt auch Sara Lundberg immer wieder Bertas Perspektive ein und lässt den Blick aus deren Augen auf die Hände des Mädchens fallen. Auf Hände, die zeichnen; auf Hände, die eine Postkarte von Michaelangelos Fresko erforschen; auf Hände, die im Suppentopf rühren; auf rissige Hände, deren Zeichnungen die Mutter nicht am Leben halten konnten. Auf Hände, die letztlich Bertas eigenes, von Modekatalogen inspirierte, gezeichnete und collagierte Figureninventar schöpferisch über Michelangelo legen. Denn so wie auch die historische Referenzfigur Berta Hansson den Hof verlassen und eine Volksschule in Sigtuna besuchen durfte, wird auch der Vogel in Bertas Brust am Ende freigelassen:

Wenn der Sommer vorüber ist,
dann fahre ich.
An eine neue Schule. In eine neue Stadt.
An einen Ort, an dem ich sein kann,
wie ich bin.

Rezension von Heidi Lexe