Ziel des Projekts „Eye-Tracking und Professionelle Unterrichtswahrnehmung" ist die Validierung eines Tests zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von Fähigkeiten zur Vermittlung von Modellkompetenz von Lehrkräften.
Lehrkompetenz zeigt sich im Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (Kunter und Trautwein 2013; Baumert und Kunter 2006). Lehrkompetenztests sollten also prädiktiv für Lernerfolg von Schülerinnen und Schüler sein, um als valide im Sinne von ökologischer Generalisierbarkeit* zu gelten. Bisherige empirisch-quantitative Lehrkompetenztests, insbesondere die weit verbreiteten deklarativen Wissenstests, stehen seit Langem in der Kritik, z. B. wenn sie zu Assessments (künftiger) Lehrkräfte eingesetzt werden (vgl. Kromrey und Renfrow 1991; McClelland 1973). Ob jemand qualifiziert oder nicht sei, könne nicht über Wissen oder Intelligenz, sondern über Kompetenz definiert werden (vgl. McClelland 1973, S. 1). Allerdings sind Kompetenzen nur schwer zu erheben. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass dies, wenn überhaupt, nur über stellvertretende Facetten von Kompetenzen gelingen kann. Denn Kompetenzen sind Produkte kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten unter Rückgriff auf mentale Ressourcen, die zur Lösung von Aufgaben benötigt werden (Weinert 2001, S. 46); eine direkte Erfassung von Kompetenz ist somit unmöglich. Um die komplexen Kompetenzen, die Lehrkräfte benötigen, messbar zu machen, werden indirekte Erhebungsmethoden notwendig sowie Modelle, die solche indirekte Kompetenzerhebungen erklären. Kersting et al. (2012) schlagen diesbezüglich die Präsentation von Unterrichtssituationen (sogenannte Vignettentests) vor und weisen für die Mathematik einen Zusammenhang des Testscores (offenes Testformat) mit Unterrichtsqualität und Lernerfolg nach.
*Ökologische Generalisierbarkeit beschreibt laut Messick 1989, S. 56 die Übertragbarkeit der Messung auf andere Situationen.
Zunehmend wird zur Beschreibung des mit Vignettentests erhobenen Konstrukt der ausdifferenzierte (vgl. Meschede 2014, S. 13) Terminus professional vision (Goodwin 1994) genutzt. Dieser stammt aus der Archäologie und definiert dort das aktive Wissen bei einer Ausgrabung, um gültige Schlussfolgerungen zu ziehen, was wiederum als Kodierungs-, Hervorhebungs- und Produktions- bzw. Artikulationsvorgang zusammengefasst wurde (Goodwin 1994, S. 606). Sherin (2007) sowie im Anschluss Sherin und van Es (2009, S. 22) wenden professional vision auf die Lehrtätigkeit an und fassen die Bestandteile als selektive Aufmerksamkeit („ability to notice“ (Sherin und van Es 2009, S. 20)) und wissensbasiertes Schlussfolgern („knowledge-based reasoning“ (Sherin und van Es 2009, S. 22)) zusammen. Im Deutschen wird in der Folge der Ausdruck Professionelle Unterrichtswahrnehmung (PU bzw. PUW, Seidel et al. 2010) geprägt.
Bei den bisherigen Definitionen dessen, was Professionelle Unterrichtswahrnehmung ausmacht, wurde zu wenig in Betracht gezogen, dass sich Professionalität bei der Unterrichtswahrnehmung auch durch themenspezifische Adaptionsfähigkeit auszeichnet. So definieren beispielsweise Seidel et al. (2010, S. 297) Noticing zwar als „die wissensgesteuerte Identifikation von Situationen und Ereignissen im Unterricht, die aus einer professionellen Sicht entscheidend für den Erfolg von Unterrichtshandlungen sind“, beziehen dies jedoch nur allgemein auf pädagogisch-psychologische Aspekte. Unserer Überzeugung nach muss ein auf Fachdidaktik fokussierender Vignettentest mit themenspezifischer Ausrichtung also das wissensbasierte Schlussfolgern bzw. Reasoning, aber vor allem das, was die selektive Aufmerksamkeit bzw. das Noticing ausmacht, entsprechend anpassen. Die Suche nach einheitlichen Operationalisierungen von Noticing und Reasoning kann somit nicht als sinnvoll erachtet werden, weil dies der Professionalität der Unterrichtswahrnehmung widerspricht.
Im hier vorgestellten Forschungsprojekt gehen wir folgender Forschungsfrage nach: Gibt es zwischen dem Vignettentest zur Professionellen Unterrichtswahrnehmung von Fähigkeiten zur Vermittlung von Modellkompetenz (Biologielehrkräfte) und der visuellen Wahrnehmung von Unterrichtssituationen, wie sie sich über das Eye-Tracking untersuchen lässt, stärkere Zusammenhänge bei künftigen Biologielehrkräften (vgl. z. B. Böttcher et al. (2015))? Die Forschungsfrage ist deshalb besonders relevant, weil über die Messbarkeit von Professioneller Unterrichtswahrnehmung über quantitative Tests bislang meist gemutmaßt wird.