Dr. phil. Marcus Rauterberg
Erzählungen machen Leute – zwei Berufs-Biografien
I.
Marcus Rauterberg (Jg. 1968) hat nach dem Abitur und dem Zivildienst 1990 das Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der Universität Lüneburg mit den Studienfächern Deutsch, Sachunterricht und Ästhetische Bildung aufgenommen und absolvierte im Anschluss ein Aufbaustudium zur Promotionsberechtigung. Parallel wurde er Wissenschaftlicher Angestellter zunächst an der Universität Lüneburg, ab 1999 an der Universität Frankfurt mit dem Schwerpunkt Sachunterricht im „Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe“. Unterbrochen wurde die Tätigkeit dort 2007 von einer Vertretungsprofessur an der Universität Osnabrück, ergänzt wurde sie durch Lehraufträge zum „Sachunterricht in internationaler Perspektive“ an der Universität Bremen.
Nach Abschluss der Promotion hat Dr. Marcus Rauterberg einige Monografien zur Geschichte und zur Disziplin des Sachunterrichts vorgelegt. In zahlreichen Beiträgen und Vorträgen befasste er sich insbesondere unter erkenntnistheoretischer Perspektive mit Fragen der Gegenstandskonstitution im Sachunterricht sowie mit dem Sachunterricht und seiner Didaktik als wissenschaftlicher Disziplin. 2003 hat er die onlinebasierte Fachzeitschrift www.widerstreit-sachunterricht.de konzipiert, gegründet und bis 2008 herausgegeben.
Nach knapp 15 Jahren an Universitäten hat Dr. Marcus Rauterberg die Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher begonnen und 2010 abgeschlossen. Zum 1.10.2010 trat er eine Stelle als Akademischer Rat an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg an. Neben administrativen Aufgaben für den damaligen Studiengang „Frühkindliche Bildung und Erziehung“, jetzt „Bildung und Erziehung im Kindesalter“, befasst er sich in Lehre und Forschung u.a. mit Referenz auf Martha Muchow theoretisch und empirisch mit Fragen der kindlichen Welterkundung, der kindlichen Welt-um-Nutzungen sowie mit der didaktischen Rekonstruktion kultureller Bestände.
2015 erfolgte die Beförderung zum Akademischen Oberrat.
In dieser Art von Erzählung passierte außer der Berufung in den wissenschaftlichen Beirat der Martha Muchow Stiftung (http://martha-muchow-stiftung.de/) seitdem nichts mehr.
II.
Am 1.10.2010 werde ich Akademischer Rat an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg im damaligen Studiengang „Frühkindliche Bildung und Erziehung“. 20 Jahre zuvor am 1.10.1990 hatte ich das Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der Universität Lüneburg aufgenommen. Alles, was ich in diesen 20 Jahren in Studium, Beruf und Ausbildung gemacht habe, habe ich gerne und oftmals mit Begeisterung getan, auch wenn immer wieder unsicher war, wie es beruflich weitergeht: Im Lehramtsstudium hieß es, dass Lehrer nicht eingestellt würden, später waren die Aussichten für Grundschuldidaktiker an Hochschulen schlecht und während der Ausbildung zum Erzieher war unsicher, in welchem Bereich der Elementarpädagogik ich auf Dauer (gerne) arbeiten würde.
Rückblickend betrachtet kann ich sagen, dass Ausbildungen und Beruf sehr stark vom persönlichen Wohlbefinden, von der Haltung zu den jeweiligen Aufgaben abhängen: So war es nach 14 Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vertretungsprofessor an den Universitäten Lüneburg, Frankfurt, Osnabrück und Bremen 2008 eine schwierige, rückblickend aber sehr gute Entscheidung, die Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher zu beginnen, Berufs-Schüler zu sein – in einer Klasse mit früheren Studentinnen.
Bis zu diesem Zeitpunkt bestand die Arbeit an den verschiedenen Hochschulen neben den Lehrveranstaltungen zunächst darin, die Promotion abzuschließen, Vorträge zu halten, zu publizieren sowie in der Gründung und Herausgebertätigkeit der Zeitschrift www.widerstreit-sachunterricht.de.
Manche Artikel und Tätigkeiten aus dieser Zeit sind mir heute nicht mehr so wichtig, anderes sehe ich heute noch als produktiv – für mein Denken und Verstehen. Diese Beiträge aus „der Zeit im Sachunterricht“ sowie neuere mit Bezug zur Elementardidaktik habe ich hier zusammengestellt.
Inhaltlich war meine wissenschaftliche Tätigkeit bis 2010 fokussiert auf den Bereich des Sachunterrichts und seine Didaktik. Innerhalb dessen ging es mir um die Frage, wie sich der Sachunterricht als wissenschaftliche Disziplin konstituieren und beschreiben lässt. Mit der ungeklärten Frage der Bezugsdisziplin bzw. der Bezugsdisziplinen des Sachunterrichts ist – sofern man von Traditionen absieht – auch die Verfassung seiner Gegenstände nicht theoretisch geklärt. Was ist also ein fachdidaktisch angemessenes Verständnis des Apfels, wenn er Thema im Sachunterricht wird? Ein Beispiel für Kernobst, ein Nahrungsmittel, eine Ware, ein heimisches Obst, ein Gegenstand zur sinnlichen Erkundung durch die Schüler:innen?
Die Frage nach dem Gegenstandsverständnis lässt sich unterschiedlich auflösen:
Dieses inhaltliche Interesse stand am Ende meiner incl. Studium 20-jährigen Befassung mit dem Sachunterricht. Und zu einem formalen Ende dieser Beziehung kam es dann weitere 10 Jahre später mit der Kündigung der Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU). Der Blick auf die Veränderungen in der wissenschaftlichen Sachunterrichtsdidaktik lässt sich sowohl als Entwicklung der Disziplin interpretieren, als auch als Entfremdungsprozess. Mit Blick in die Jahres- bzw. Tagungsbände der GDSU lässt sich erkennen, wie konzeptionelle, theoretische Fragen ggü. Beiträgen zur – im weitesten Sinne – empirischen Lehr-Lern-Forschung immer weiter zurücktreten. Dies sicher auch vor dem Hintergrund des „Perspektivrahmen Sachunterricht“, den die GDSU als Kommunikationspapier mit den Kultusministerien Anfang der 2000er Jahre erstmals erarbeitete. Aus meiner Sicht hat damit eine bildungspolitisch anschlussfähige Konzeption eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um eine Theorie des Sachunterrichts, um eine Sachwissenschaft abgelöst – scheinbar obsolet gemacht. Bei aller Entfremdung war der Austritt aus der GDSU aber auch eine emotional schwierige Ent-Scheidung.
Meine Basis für die Arbeit im Bereich der Elementarpädagogik ab 2010 lag zunächst in der Ausbildung zum „staatlich anerkannten Erzieher“ an der Berta Jourdan Schule in Frankfurt/Main mit dem anschließenden „Anerkennungsjahr“ in einer Einrichtung für Kinder von 3-12 Jahren. Akademisch bin ich strenggenommen als Fachfremder in den Bereich der Elementarpädagogik eingestiegen – eine Situation, die in der damals neuen Disziplin nicht ungewöhnlich war.
Allerdings lassen sich viele Fragen aus der Primar- in die Elementarpädagogik übertragen bzw. tauchen dort wieder auf, erfordern jedoch andere Überlegungen und Antworten. Im Zusammenhang mit dem Bereich des Welterkundens von kleinen Kindern lässt sich z.B. die Frage stellen, ob und inwiefern hier Fachwissen und Fachmethoden eine Rolle spielen können und sollen.
Kinder erkunden für sich die Welt, wobei manches davon – auch mich als – Pädagogen in Prozess und Ergebnis irritiert. Welchen Sinn kann das ewige Schöpfen von Wasser – für die Kinder – ergeben? Aus dieser Frage kann resultieren, den Kindern naturwissenschaftsähnliche Tätigkeiten und Deutungen anzubieten. Enthusiast:innen dieses Vorhabens formulieren hier weitgehende Möglichkeiten und Erfolge insb. über den Weg des sog. „Experimentierens“ und „Ko-Konstruierens“. Andere Vertreter:innen naturwissenschaftlicher Didaktik oder eines „Selbstbildungsansatzes“ formulieren hier deutlich verhaltener methodische wie inhaltliche Möglichkeiten.
Die Frage nach dem Kindersinn des Schöpfens kann aber auch dazu anregen, eben diesem Sinn – forschend – nachzugehen. Damit ständen Sinn und Perspektive der Kinder im Mittelpunkt, nicht Möglichkeiten früher Einführung in „naturwissenschaftliches“ Denken.
Auf Basis einer Kindheitsforschung und eines empirischen „konkrete Kinder-in-der-Welt-Beforschens“ befasse ich mich mit der Frage: Wie erkunden Kinder Welt? Wie können wir als Erwachsene mit Kindern Welt erkunden, ohne die kindlichen Methoden und Ergebnisse der Welterkundung – vor dem Hintergrund ihrer Diskriminierung als defizitär – „zu unterstützen“, zu berichtigen oder anzuleiten? Denkt man diesen didaktischen Ansatz konsequent zu ende, bricht er inhaltlich wie auch methodisch mit zahlreichen Selbstverständnissen der schulischen Didaktik (vgl. Rauterberg/Scholz 2021).
Für das Welterkunden mit Kindern und den Sachunterricht mit Schüler:innen versuchen wir in der „Werkstatt Sachlernen in Früher Bildung und Grundschule“ an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg konzeptionell wie auch in den bereitgestellten Materialien Inspiration, bestenfalls Innovation anzubieten.
Zum Schluss I: Welterkunden mit Kindern und Studierenden
Kann „mal sehen, was passiert, wenn ich nicht eingreife, fördere, unterstütze, lehre“ auch ein elementardidaktisches Prinzip sein? Können die Erwachsenen, Eltern, Pädagog:innen das gegenwärtig aushalten? Lernen die Kinder da etwas? Was lernen die Kinder da? Ist das wichtig/„richtig“?
Und das verweist auf die grundsätzlichere Frage, wie die Perspektive von (jungen) Kindern auf die Welt vorstellbar ist. Weitergedacht: Gibt es eigentlich von Natur aus Kinder oder sind sie als kulturelle Konstruktionen zu verstehen? Ein Band, der sich theoretisch an der Frage versucht, ist unter dem Titel „Zur Frage nach der Perspektive des Kindes“ erschienen (Beck, Gertrud/Deckert-Peaceman, Heike/Scholz, Gerold (Hrsg.) 2022). Entstehungskontext ist die Martha Muchow Stiftung, die auf Muchows Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ aus den 1930er Jahren rekurriert (Muchow/Muchow 2012).
Zum Schluss II – ist kein richtiger Schluss, sondern bezieht sich auf die Unterbrechung meiner Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule durch ein Sabbatjahr. Und nach über 25 Jahren an Hochschulen, nach über 12 Jahren an der PH in Ludwigsburg ist es zunächst einmal gar nicht einfach, zu unterbrechen. Es hat sicher einige Monate gebraucht, bis ich gedanklich raus war. Auf dem Landweg bin ich in dem Jahr recht weit in Europa herumgekommen. Dazu gäbe es viel zu sagen, in diesem Zusammenhang möchte ich hervorheben, dass jeder – von mir ja freiwillig gewählte – Aufbruch zu weiteren Erkundungen auch eine Überwindung, eine Herausforderung, eine Anstrengung, eine Verunsicherung darstellte. Didaktisch gewendet ließe sich sagen: Didaktik ist die Lehre der methodisierten, fremdbestimmten Zumutung aufzubrechen, sein Welt- und Selbstverständnis zu verändern. Da stocke ich dann schon, wenn ich lese, in welchem Selbstverständnis Bildungspläne und Konzepte (und Studierende) davon sprechen, was Kinder lernen sollen. Darin steckt ein „wandle Dich!“, „werde anders!“ sicher aus dem Wunsch gespeist, dass die Kinder es „in Zukunft einmal besser haben sollen“. Selbst erfahren wird die darin steckende Anstrengung spürbar(er). Und neben dem Lehr-Gang fordert Kinder (und Studierenden) ja auch noch das Leben außerhalb des pädagogischen Rahmens. Das war bei mir gleich nach Ende des Sabbatjahrs der Fall. Durch das Sabbatjahr als Bildungsreise und das „wahre Leben“ verändert, war ich schnell wieder drin in den Abläufen, wobei sich auch an der Hochschule in dem Jahr einiges verändert hatte, u.a. digital und personell. Mit der durch das Sabbatjahr bedingten Erkenntnis, dass „es ein Leben außerhalb der Arbeit“ gibt, verändert sich deren Gewichtung im Leben und der Blick wendet sich auch angesichts des Lebensalters nach vorne – dem Ende des Arbeitslebens zu. Mit dem Gedanken hätte ich vor 2 Jahren nicht gerechnet. Auch ist das noch einige Jahre hin, gleichwohl verändert dieser Gedanke Selbstbild und Weltverhältnis. Und ich bin vor dem Hintergrund bemerkter (oder erhoffter) Veränderungen und Entwicklungen in und durch die letzten Jahre durchaus gespannt auf die letzte Phase im Arbeitsleben, auf thematische Schwerpunkte und Haltungen zu Sachverhalten. Ich gehöre jetzt – in der Fremdwahrnehmung durch Studis, das wird in kleinen Anmerkungen auch wahrnehmbar, und (zunehmend) in der Selbstwahrnehmung – zu den Alten an der Hochschule. Eine neue Perspektive.
Zum Schluss III: Lehrer:innen
Biografien, Lernprozesse und Bildungsmöglichkeiten haben immer auch mit anderen Menschen und manchmal mit besonderen Situationen zu tun. Ich danke einigen „Lehrer:innen“ ausdrücklich, die mir an Universitäten und Hochschulen vertraut und damit Lernen, Denken, Bildung ermöglicht haben. Ich nenne hier Cornelia Albers, Getrud Beck, Wolf Engelhardt, Karl-Josef Pazzini, Gerold Scholz, Hans-Joachim Fischer – und viele andere an dieser Stelle nicht. Mein Bild von Schule ist durch die Ausbildungszeit an der Berta Jourdan Schule in Frankfurt durch die dortigen Lehrer:innen gerettet worden.
Literatur
Beck, Gertrud/Deckert-Peaceman, Heike/Scholz, Gerold (Hrsg.) (2022): Zur Frage nach der Perspektive des Kindes. Opladen: Budrich.
Horak, Renate/Rauterberg, Marcus/Schmid, Elena (Hrsg.) (2013): … bis nach Istanbul. Dokumentation von Planung und Ergebnissen einer Forschungsexkursion von Studierenden der Frühkindlichen Bildung. www.widerstreit-sachunterricht.de 19/Okt. 2013
Knapp, Claudia/Schneider, Katharina (Hrsg.) (2019): Moritz und die Flasche: Interpretationen der Auseinandersetzung eines Kleinkindes mit Kultur. Weimar und Berlin: Verlag das Netz
Lenz, Maren/Meischel, Maren/Rauterberg, Marcus (2012): Studierende des Studiengangs Frühkindliche Bildung und Erziehung denken mit Kindergartenkindern über die Frage „Wie schlafen Fische?“ nach. In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 8/2012, S. 50-52
Muchow, Martha/Muchow, Hans Heinrich (2012): Der Lebensraum des Großstadtkindes. Weinheim: Juventa.
Rauterberg, Marcus/Scholz, Gerold (2021): „Welterschließung als (zentrales) „Fach“ der Grundschule“. In: Peschel, Markus (Hrsg.) (2021): Didaktik der Lernkulturen. Beiträge zur Reform der Grundschule, BD. 153. Frankfurt: Grundschulverband, S. 216-230.
Rauterberg, Marcus (2024): Partizipation in der Entwicklung des Lerngegenstandes – ein demokratisches Potential von Lernwerkstätten: In: Franz, Victoria Sophie/Langhof, Julia Kristin/Simon, Jana/Franz, Eva-Kristina (Hrsg.) (2024): Demokratie und Partizipation in Hochschullernwerkstätten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 87-94.
Rauterberg, Marcus (2022): Die Fragen der Kinder und die Kinderfrage. In: Beck, Gertrud/Deckert-Peaceman, Heike/Scholz, Gerold (Hrsg.) (2021): Zur Frage nach der Perspektive des Kindes. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich, S. 247-266.