Ein Archiv für die Pädagogik des Elementar- und Primarbereichs sowie für die empirische Kindheitsforschung
Die hier archivierten Filmdokumente stammen aus dem EU-Projekt „Natur und Technik in frühen Bildungsprozessen“ (2008-2011)[1] und aus der Zusammenarbeit mit Kindergärten im Rahmen von Kontaktstudien „Frühe Bildung“ an der PH Ludwigsburg in den Jahren 2005 bis 2011. Jede Publikation solcher Dokumente bedarf der Einwilligung aller Beteiligten, insbesondere der Erziehungsberechtigten der Kinder, die uns erteilt wurden.
Sie finden in dieser Zusammenstellung Filme mit Kindern, die – mehr oder weniger begleitet von Erwachsenen – ihre Welt erkunden und verstehen. Diese Dokumente können verschiedenen Zwecken dienen:
Wird von Fällen und Beispielen ausgegangen, haben pädagogische Praxis und pädagogische Forschung die gleiche Erfahrungsgrundlage und können darüber in einen Dialog treten.
Nachstehend finden Sie entsprechend der Differenzierung in pädagogisches und forschendes Interesse zwei rahmende Erläuterungen zu den Filmdokumenten:
Wir haben die dokumentierten Situationen – ohne Anspruch auf Trennschäfte – zwei Kontexten zugeordnet:
Kinder haben in den Videos Umgang insb. mit den Phänomenen Luft und Wasser, sie erkunden und machen dabei Erfahrungen. Dafür wurden den Kindern alltagsnahe Gegenstände (Löffel, Becher, …) angeboten, die sie auswählen und in einer pädagogisch gestalteten Umgebung ausprobieren konnten. Darüber hinaus wurden hier zufällige, spontane, von den Kindern selbst gestaltete Begegnungen und Erkundungen in die Dokumentation einbezogen. Filmarchiv "Umgehen, Erkunden"
Hier sprechen Kinder über ihre Beobachtungen, Erfahrungen und Deutungen und denken darüber nach. Dazu wurden Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen dokumentiert. Zuvor wurden die Kinder angeregt zu zeichnen oder anderweitig gestalterisch darzustellen, was sie ausprobiert und dabei erfahren hatten. Die Gespräche bezogen sich dann z.B. auch auf die Zeichnungen. Filmarchiv "Nachdenken, in Sprache fassen"
Auch wenn sich Ihre Wahrnehmungen und Deutungen der Videos an einem Objektiven (dem Filmdokument) bemessen lassen, auch wenn Sie durch Gespräche und Vergleiche mit anderen geprüft werden, bleiben sie unvermeidbar subjektiv. Wir haben dennoch, vor allem mit Blick auf Studierende, einen Katalog mit Vorschlägen zum methodischen Vorgehen bei der Annäherung erarbeitet, die die Wahrnehmung und Deutung der Beispiele strukturieren, nicht aber einengen sollen.
Unabhängig davon, ob Sie bei der Auseinandersetzung mit einem Filmbeispiel eher von pädagogischen oder von Forschungsabsichten geleitet sind, empfiehlt sich folgendes Vorgehen:
Zur Erschließung des Kinderhandelns scheint es uns produktiv folgende Fragen zu bearbeiten:
Exkurs zum Spiel
An dieser Stelle einige grundlegende Bemerkungen zur Einordnung des Kinderspiels. Sollte „Umgehen, Erkunden, Explorieren“ nicht besser durch „Spielen“ ersetzt werden? Oder sollte das Spielen nicht als eine vierte Form kindlicher Betätigung zum Umgehen und Erkunden hinzufügt werden?
Gegen das erste spricht, dass Kinder auch dann mit Dingen umgehen und etwas erkunden können, wenn sie nicht dabei spielen. Das Kinderspiel deckt also nicht alle diese kindlichen Betätigungsweisen ab. Gegen das zweite spricht, dass dem Spiel eine Sonderstellung in allen kindlichen Betätigungen zukommt. Es hat im Kinderleben eine eigene Dynamik und Bedeutung (eine Art Meta-Bedeutung), die alles andere überstrahlt.
Moritz (ca. 1,5 Jahre) beschäftigt sich 30 min. mit einer leeren Plastikflasche und ihrem Deckel. Er schaut sie sich nicht einfach nur an. Er nimmt sie nicht einfach in seine Hände und probiert aus, was er damit machen kann, z.B. ob er den Deckel abnehmen und wieder aufsetzen kann. Stattdessen entwickelt er ein sich wiederholendes Handlungsmuster: Er zieht den Deckel ab, führt die Flasche zum Mund, als ob er trinken möchte, setzt die Flasche ab, tut den Deckel drauf.[2]
Warum geht Moritz nicht einfach „irgendwie“ mit der Flasche um? Warum erkundet er sie nicht und probiert, was er alles mit ihr machen kann? Er zieht sie stattdessen ins Spiel und alles, was er mit der Flasche macht, ist nur aus diesem spielerischen Momentum heraus angemessen zu verstehen. Und so wie bei Moritz hängt das Spielerische überall in der Kindheit. Es ist fast so etwas wie eine eigene kindliche Lebensweise. Sicher hat dies was damit zu tun, dass Kinder im Spiel Sachen ausprobieren können, für die sie noch nicht zuständig sind. Es hat wohl auch etwas mit der außen noch neuen Welt zu tun, innen mit der Lust anzufangen, hinauszugreifen, sich auszuweiten. Wir finden das bei Erwachsenen so jedenfalls nicht mehr. Das Spielen ist also keine eigene Umgangs- oder Erkundungsweise neben anderen. Es ist ein spezifisch kindlicher Zugriff, ein modus vivendi für alle möglichen Umgangsweisen, die dadurch in eine eigene Welt gezogen werden.
Von außen beschreiben Erwachsene diese Welt als eine „Schein“-Welt, als keine wirkliche Welt also, vielmehr eine Welt, in der man auch nur so tun kann, als ob. Für die Kinder ist diese Welt von einer lebendigen Aktualität und einer sinnlichen Präsenz. Diese Welt können Kinder (leichter) aufmachen und (schwerer) wieder zumachen. Es ist, als sei ein Gefälle im Kinderleben, das dieses Leben immer wieder ins Spiel fallen lässt. In der Betrachtung, für das Verstehen des Kind-Seins würde uns also etwas Wichtiges entgehen, wenn wir es nicht aus seiner spielerischen Veranlagung heraus begreifen – einer der größten Fehler der Schule ist, dieses Spielerische beim Kind nicht als für das Welterschließen und Lernen wertvoll zu sehen und anzunehmen, selbst wenn das Spiel nicht finalisiert, sondern immer neu anfängt.
Kinder suchen im Spiel immer neue Anfänge in der Welt. Die Phänomenologie spricht von einer „inneren Unendlichkeit“. Das meint nicht einen psychologischen oder neurologischen Drang, sich zu betätigen. Es geht vielmehr kategoriell um einen subjektiven Sinn, der sich da ausdehnt, in immer neue Wiederholungen, die sich bei genauem Hinsehen – und dafür stellen die vorliegenden Filme eine Möglichkeit dar – als Variationen zeigen, so als ob das Spiel den ganzen potentiellen Erscheinungsraum austasten möchte, den ein Phänomen füllt.
„Das ist immer so“, mag dem Kind als eine objektivierende Einsicht in Sachverhalte irgendwann bewusst werden. Diese objektivierende Einsicht entsteht aber nicht erst als eine Frucht des nachdenkenden Bewusstseins. Sie ist bereits eine Frucht des Spiels, lange bevor überhaupt genügend Sprache zur Verfügung steht, um ins Allgemeine zu deuten und zu sprechen. Das Allgemeine ist schon vorher da als eine Empfindung – eine Empfindung, die sich entlang der Spur von Tätigkeiten gebildet hat, von Wiederholungen und Variationen. So basiert das Allgemeine (bereits) auf dem Spiel. Der Physiker Weizäcker formuliert es in dem Satz: „Wir haben affektiv wahrgenommen, ehe wir gedeutet haben.“
Weiterführend noch ein abschließender Gedanke: Es ist unabdingbar, das Allgemeine in den Empfindungen zu spüren, bevor es in Denken und Sprechen geholt werden kann. Diese Empfindungen sind ein wesentlicher Teil unserer Begabung zur Logik. Es braucht alle erforderliche Zeit, sie auszuleben, deshalb sind (pädagogisch forcierte) Abkürzungen letztlich riskant. Wer Kinder beim Spielen beobachtet, merkt schnell, dass wir Erwachsenen so nicht mehr spielen können. Wir haben den unendlichen Raum verloren.
„Bildung nennen wir jenes Phänomen, an dem wir unmittelbar der Einheit eines objektiven, materialen und eines subjektiven formalen Moments inne werden. Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen, aber das heißt zugleich Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit“ (Klafki, Wolfgang (1965): Kategoriale Bildung, in: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, S. 43).
„Das kindliche Spiel als die Frühform der kategorialen Bildung … Auch das kindliche Spiel vollzieht sich in jener für alle Bildung fundamentalen Spannung zwischen Ich und Gegenstand, Subjekt und Objekt … Anschauung und Sprache, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln, Leib und Seele bilden beim Kinde noch eine ungeschiedene Einheit“ (Klafki, Wolfgang (1957): Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim: Beltz, S. 110ff.).
Implizites und Explizites im Bildungsprozess
Es geht in der Pädagogik um Bildung. Wohl nur wenige andere Sätze beschreiben sprachlich so genau wie die von Klafki dieses Anliegen der Pädagogik – in der Sache zutreffend und zugleich allgemein anerkannt. Bildung ist mit Klafki die Bildung von Kategorien.
Im alten Griechenland hat man unter einer Kategorie die Anklage(rede) in einem Gerichtsprozess verstanden. Später wurde diese Bedeutung ausgeweitet. Kategorien werden danach innen im Menschen als geistig-seelische Schöpfungen gebildet. Sie gleichen einem subjektiven Schlüssel, der außen eine objektive Welt aufschließt. Die Gedanken und Worte des altgriechischen Anklägers, die außen ein Vergehen aufdecken und einsehbar machen, sind davon nur noch ein Spezialfall. Kategorien, geistig-seelische Schlüssel zur Welt, sind, wie unser geistiges Innenleben überhaupt, eng an Sprache gebunden und darüber ausdrück- und mitteilbar. Ihre Schlüsselfunktion öffnet die Tore zwischen innen und außen, so dass man herausgehen und hineinholen kann: Man kann hinausdenken wollen und handeln in eine Welt, die ohne den Schlüssel im Verborgenen bliebe. Und man kann die äußere, objektive Welt hineinholen ins innere, subjektive Wahrnehmen, Erleben und Erkennen. So eng sind Innen und Außen, Subjekt und Objekt kategorial miteinander verbunden, dass es das Eine ohne das Andere gar nicht gäbe. So kriegen wir das Subjektive immer nur da zu fassen, wo es gerade dabei ist, eine Welt zu objektivieren. Und zu dieser äußeren Welt haben wir keinen anderen Zugang als den über ein inneres Subjekt.
Kategorien, jene geistig-seelischen Schlüssel, die den Menschen für seine Welt aufschließen und umgekehrt, haben – wie gesagt – eine gewisse Vorliebe für die Sprache. Es gibt kein effektiveres Mittel, um seine Welterfahrungen und -beobachtungen zu reflektieren, zu ordnen und mitzuteilen als die Sprache, die dazu ein System an Zeichen und Bedeutungen bereitstellt. Aber kategoriale Bildung beginnt bereits vor der Sprache, in gewisser Weise bereits vorgeburtlich (Genetik, Phylogenetik, Ontogenetik, Epigenetik, Pränatale Bildung). Bevor ein Mensch auf die Welt kommt ist er auf Sprache angelegt, aber noch nicht oder erst ganz in Anfängen sprachlich gebildet. Der Erwerb, die Ausbildung von Sprache ist auf die Bildung von Kategorien angewiesen. Deshalb reicht das, was den Menschen ihre Welt aufschließt, tiefer als die Sprache. Auch Klafki fragt nach diesen frühen Kategorien, die noch kaum oder nur anfänglich sprachlich vermittelt sind. Er sucht dabei den Dialog mit Fröbel, der sich vor allem dem Spiel kleiner Kinder gewidmet hat.
Ein Beispiel ist das Spiel mit dem Ball. Der Ball tritt als etwas Objektives in den Horizont einer sich an ihm bildenden kindlichen Subjektivität: Er tritt ein in den Horizont als das Andere, Nicht-Ich. Er ist da, verschwindet, kommt wieder. Er liegt ruhig, bewegt sich, rollt, springt, fällt, prallt zurück. Klafki und Fröbel beschreiben viele verschiedene solcher objektiven Erscheinungsweisen des Balles. Das Kind holt den Ball in sein Spiel und probiert solche Erscheinungsweisen aus. In diesem Ausprobieren bildet es sich selbst subjektiv dem Ball entgegen. Es bildet seine Hände, das Greifen, den Wurf, das Fangen, das Mitlaufen, die Erwartung, dass der Ball zurückkommt, die Freude über die Ankunft, das Glück ihn zu halten, zu drücken, zu beißen. Solche Kategorien sind eher körperlich implizit. Sie sind ein bildender Nährboden, ja ein unerlässlicher Grund für jedes explizite Weltwissen, dass sich auf sprachliche Kategorien stützt. Unsere Filmbeispiele zeigen, wie sehr die implizite Kategorienbildung auch noch im Spiel älterer, sprachlich gebildeter Kinder vorherrscht.
Subjektives und Objektives im Bildungsprozess
Klafki spricht – einem traditionellen Sprachgebrauch folgend – von „diesem“ Menschen und von „dieser seiner“ Wirklichkeit. Er meint damit, dass die geistig-seelischen Schlüssel, welche die Menschen innen bilden, ihre Kategorien, etwas Eigenes sind, das sich von anderen Schlüsseln unterscheidet. Und auch die Welten, die sie aufschließen, sind deshalb verschieden. So, wie Ankläger und Verteidiger unterschiedliche Reden halten. Sie beziehen sich auf dasselbe Vergehen, dieselbe Welt und stellen sie doch verschieden dar. Jeder Mensch bildet seine Kategorien selbst und er bildet sie auf eigene Weise. Deshalb leben die Menschen innen und außen in eigenen Welten.
Bildung ist zugleich Individuation, Herausbildung einer eigenen, einmaligen Subjektivität, die sich von anderen Subjekten unterscheidet wie Anklage und Verteidigung. Individuation formt, bildet sich innen auf je eigene Weise und korrespondiert außen mit einer je eigenen Welt. Dies betrifft im Grunde jede Kategorienbildung, auch die in der wissenschaftlichen Pädagogik und Forschung.
Und doch ist die objektive äußere Welt in der Pädagogik mehr als nur ein Schattenwurf individueller Subjekte. Würden wir alle nur in eigenen Welten leben, könnten wir einander kaum begegnen. Und schon die altgriechischen Gerichtsprozesse zeigen, dass Anklage und Verteidigung miteinander verhandeln. Ohne etwas Gemeinsames wäre dies nicht möglich. Die Kategorien, die wir bilden, sind nicht hermetisch voneinander abgeschlossen und isoliert, sondern mitteilbar, kommunizierbar. In dem Maße, in dem wir zusammenleben, teilen wir unsere Bildung. Deshalb ist sie nicht einzig nur Individuation, sondern auch geteilte Sozialisation und Enkulturation. Dazu gehört auch, dass Bildung in ein historisch-kulturelles Umfeld gestellt ist, in dem längst schon Kategorien gebildet wurden, in dem um die Geltung von Kategorien gerungen wird und in dem sich ein Bestand an relativ allgemeinverbindlichen Kategorien etabliert hat, der für den Bestand des Gemeinwesens als relevant erachtet wird. Individuelle Bildungsprozesse sind in diese Verbindlichkeit hineingestellt. Deshalb spricht Klafki nicht nur von einer dinglichen, sondern auch von einer geistigen Welt. Sie wurde von vielen Subjekten innen geschaffen, ist aber nun Teil einer äußeren, objektiven Welt, in die die Menschen hineingestellt sind (auch dies betrifft kindliche Bildung und deren Erforschung gleichermaßen).
Es gibt also ein objektives Maß, an dem sich die subjektive Bildung als Individuation bemisst. Der individuellen Kategorienbildung sind aber Grenzen gesetzt. Bildung ist nicht beliebig. Sie muss sich bewähren an den realen Verhältnissen der objektiven dinglichen Welt, auch wenn diese immer nur subjektiv erschlossen werden kann. Und auch die kulturell überlieferten, gesellschaftlich geteilten Kategorien begegnen uns als eine große, objektive Realität, die der subjektiven Kategorienbildung in individuellen Bildungsprozessen eine äußere Norm setzt, aber auch ein Potential verleiht, welches die Individuen weit über sich hinausführt. Dazu gehört auch die Orientierung der Allgemeinbildung an den Wissenschaften. Gleichwohl sind auch diese darauf angewiesen, individuell angeeignet und das heißt immer auch umgeformt, in eine eigene subjektive Form gegeben zu werden. Klafki steht in der Traditionslinie einer Pädagogik, welche dieser individuellen Seite im Bildungsprozess einen Vorrang einräumt. Im Konfliktfall überwiegt nicht der objektive Bildungsanspruch, sondern der subjektive, individuelle Bildungssinn.
Was haben die beiden Seiten der kategorialen Bildung, das Subjektive und das Objektive, mit der Art und Weise zu tun, wie wir in der Pädagogik empirische Forschung betreiben?
Pädagogische Forschung kann grundsätzlich eher am Objektiven oder eher am Subjektiven ausgerichtet sein. Im ersten Fall, wir wollen sie objektivierende Forschung nennen, hat sie einen äußeren Maßstab, an dem sie die innere Entwicklung von jungen Menschen bemessen kann. Sie ermisst dann, inwieweit eine subjektive Kategorie einem äußeren, objektiv gesetzten Maß entspricht. Diese Entsprechung kann man auch quantifizieren (quantitativ-objektivierende Forschung).
Bezogen auf einzelne Menschen und kleine Gruppen wird dies als diagnostisches Mittel in der pädagogischen Praxis eingesetzt, daran dann „Erfolg“ und „Versagen“ in schulischen Laufbahnen bemessen. Dieses Mittel – das sei hier nur angedeutet – ist umstritten. Besonders für die Grundschulbildung wird ein quantitativer Leistungsvergleich in Form von Noten aus pädagogischen Gründen durchaus in Frage gestellt.
Was die quantitative, am Objektiven ausgerichtete pädagogische Forschung anbelangt, so macht es für sie wenig Sinn, sich auf Individuen, auf subjektive Kategorien einzuschränken. Vielmehr versucht man hier, zu allgemeinen Erkenntnissen zu gelangen. Diese Allgemeinheit wird mathematisch aus Messungen und Berechnung ermittelt, die an je individuellen subjektiven Kategorien vorgenommen und mit statistisch ermittelten Allgemeinheiten relativiert wurden. Hier gewonnene Aussagen haben nicht die Allgemeinheit sog. „Naturgesetze“, die beanspruchen, mathematisiert universelle Einschränkungen des Naturgeschehens zu beschreiben. Die allgemeinen Erkenntnisse einer am objektiven Maß ausgerichteten pädagogischen Forschung sind „kontingent“ (lat. „contingere“ = berühren, heranreichen: also immer nur bezogen auf etwas Anderes). Sie beschreiben eine mögliche, aber nicht zwingend gegebene oder zwingend eintretende Wirklichkeit, unterliegen deshalb auch einem historischen, gesellschaftlichen, kulturellen Wandel. Vor allem aber sind sie abhängig von der im Prinzip freien, schöpferischen Kategorienbildung individueller Subjekte, was diese Art pädagogischer Forschung für ihre Aussagen aber ausblenden muss
Im Unterschied dazu sind pädagogische Forschungen anhand von Fallstudien empirisch immer auf den Einzelfall bezogen. Am Einzelfall versuchen sie einen verstehenden Zugang zum Subjektiven als einer generell möglichen und speziell eingetretenen Kategorienbildung zu gewinnen. Das Subjektive gibt es nicht allgemein, sondern immer nur individuell. Welche Kategorien bildet dieses Kind? Wie objektiviert es seine Welt? Hier reicht es nicht aus, nur einzelne Merkmale abzufragen, die von objektivem Interesse sind. Die Forschung muss sich vorbehaltlos einlassen auf diesen einen Menschen in einer besonderen Situation, wo er herausgefordert ist, auf seine eigene Weise Kategorien zu bilden und sich darüber eine Welt zu erschließen. Das probate Mittel dazu ist der intersubjektive Dialog.
Während die genannte objektivierende Forschung ihre Erkenntnisse unabhängig von der je eigenen subjektiven Prägung der Forschenden zu gewinnen versucht, ist dies beim intersubjektiven Verstehen nicht möglich. Deren Verstehen ist deshalb – wie oben bereits angedeutet – als ein Bildungsprozess angelegt, in dem Forschende sich immer wieder neu auf die andere subjektive Wirklichkeit, auf die Kategorienbildung des anderen einlassen (müssen): hermeneutisch zirkeln und dabei sich selbst erweitern und verändern. D.h., hier kann der Forschungsprozess selbst auch als kategorialer Bildungsprozess, gleich dem der Kinder, den er erforscht, verstanden werden. Alles, was diesen Prozess unterstützt, auch der Dialog im Expert:innenkreis, auch die eigene Expertise, ist hier von Bedeutung.
Natürlich spielt beim intersubjektiven Verstehen die Sprache eine hervorragende Rolle. Aber die Bildungsprozesse kleiner Kinder, die ja zunächst „sprachlos“ auf die Welt kommen, gewinnen erst allmählich an sprachlicher Bedeutung. Dennoch sind sie nicht bedeutungslos. Von Anfang an bilden Kinder Kategorien, um sich darüber objektivierend eine Welt zu erschließen. Diese Kategorien sprechen sie noch nicht aus, sie liegen nicht einmal sprachlich vor. Aber wir finden sie in ihren Bewegungen, Emotionen, in den ausgedrückten Empfindungen, in den 100 Sprachen der Kinder, von denen die Reggiopädagogik spricht, und in dem, was sie tun. Diese tätig-bewegte Seite der Welterschließung steht in frühen Bildungsprozessen im Vordergrund, geht aber auch in späteren Bildungsprozessen niemals ganz verloren. Deshalb zeigen unsere Filme vor allem das spielerische, explorative Handeln der Kinder, aber dann auch Gespräche. In der Sprache können ältere Kinder nicht nur die äußere Welt beschreiben, sondern auch das reflektieren, objektivieren, versachlichen, ja modellieren, was sie selbst in explorativer Absicht getan, erlebt und erfahren haben.
Einzelfallstudien ziehen Forschende und Erforschte in einen Dialog, der beide tendenziell verändert, indem er ihnen abverlangt, sich verstehend zu bilden. Bleibt zu ergänzen, dass solche intersubjektiven Dialoge nicht nur in Forschungskontexten, sondern auch in pädagogischer Absicht – als Alternative zur Korrektur und standardisierten Leistungsmessung – geführt werden können. Im Grunde bilden sie die Mitte jeder guten Pädagogik. Und Forschung, die diese Mitte sucht, wird notwendig pädagogisch.
Wolfgang Klafki stand als wissenschaftlicher Pädagoge eher auf der Seite des Subjektes. Dennoch gibt es kaum jemanden, der sich substantieller und bedeutsamer als er auch mit der objektiven Seite der Bildung auseinandergesetzt hat. Diese objektive Seite hatte für ihn auch eine andere als die bisher angesprochene Bedeutung. Sie tritt den Lernenden nicht nur anspruchsvoll gegenüber als eine geistige und materielle Wirklichkeit, die ihnen abverlangt, sich kategorienbildend subjektiv mit ihr auseinanderzusetzen. Sie steckt über natürliche, gesellschaftliche und kulturelle Lebensbedingungen bereits tief in den gebildeten Subjekten und prägt unbewusst ihre Kategorien, was Individualität und Subjektivität relativiert, potenziell die Kategorien verstehbarer macht. Diese Prägungen kritisch ins Bewusstsein zu holen, sich ggf. aus ihren Bindungen zu lösen, ja die bindenden Lebensbedingungen dabei selbst in Frage zu stellen, ist für ihn ein weiteres Anliegen guter Pädagogik. Diesem Anliegen ist mit der – emanzipatorischen – Befreiungspädagogik auch eine eigene pädagogische Forschungstradition verpflichtet.
Sie können auf den Text auch als PDF-Datei zugreifen, ebenso wie auf das gesamte Filmarchiv.
[1] Fischer, Hans-Joachim/Knörzer, Martina (2011): Spielen mit Luft und Wasser: Aktionen und Reflexionen der Kinder. In: AG Naturbild (2011): Natur und Technik in frühen Bildungsprozessen. Studienbuch Bd. 2: Kinder wahrnehmen und verstehen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
[2] Diese Passage bezieht sich auf ein Forschungsprojekt, das auf der filmischen Dokumentation des Umgangs von Moritz mit einer 1,5l PET-Flasche basiert. Der Film „Moritz und die Flasche“ findet sich bei Youtube, die deutenden Beiträge im Band „Moritz und die Flasche. Zum Dialog eines jungen Kindes mit Kultur“ (2019, hrsg. von Claudia Knapp und Katharina Schneider, Weimar: verlag das netz).