In dem Gutachten „Lernen im Lebenslauf – formale, non-formale und informelle Bildung: die mittlere Jugend (12 bis 16 Jahre)“ wird nach Bildungsprozessen von Kindern und Jugendlichen in einer bildungsbiografischen Perspektive gefragt. Bildung wird dabei als umfassende Entwicklung der Persönlichkeit gefasst und als aktiver Prozess des Subjekts betrachtet. Bildung in diesem Sinne erfolgt in der Auseinandersetzung des Subjekts mit sich und der Welt in vielfältigen Bezügen und Dimensionen, mit der kulturellen und sozialen Welt, der Welt der Natur und der Dinge. So kommt mit der Frage nach den Bedingungen der Bildung des Subjekts auch das Gefüge von lebensweltlich vorfindlichen und institutionell arrangierten Bildungsgelegenheiten in den Blick. Bildung des Subjekts erfolgt somit in einem Wechselspiel von formaler und informeller Bildung.
Der Schule als Institution formaler Bildung kommt dabei eine zentrale und unverzichtbare Funktion für die Bildung von Kindern und Jugendlichen zu, neben der Schule wird das Augenmerk deshalb aber auch auf Angebote und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet und auf informelle Bildungsprozesse im Alltag von Kindern und Jugendlichen.
Bildungsprozesse im Jugendalter verlaufen im Zusammenspiel von formalen, non-formalen und informellen Bildungsprozessen. Ungleichheiten in Bezug auf Bildungschancen können in allen drei Bereichen begründet sein. Aufgrund von kumulativen Effekten können dadurch Bildungsbenachteiligungen verstärkt werden. Massive Ungleichheiten in den Bildungschancen und Bildungsverläufen stellen somit in einer demokratischen Gesellschaft ein Gerechtigkeitsproblem dar. Da Bildung eine entscheidende Ressource der Lebensführung darstellt und da geringe und unzureichende formale und informelle Bildung ein höheres Risiko der sozialen Ausgrenzung, schlechtere Chancen für eine gelingende berufliche Integration, für eine selbständige Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, handelt es sich darüber hinaus nicht nur um ein bildungspolitisches, sondern auch um ein sozialpolitisches Problem.
Um der doppelten Benachteiligung von Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen in der formalen und der informellen Bildung entgegenwirken zu können, sind mehrere Maßnahmen erforderlich: So ist einerseits eine bessere individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schule notwendig, um zu vermeiden bzw. minimieren, dass herkunftsbedingte Benachteiligungen in der Familie sich als Bildungsbenachteiligung in Bezug auf formale Bildungsinstitutionen auswirken. Hier sind individuelle Förderangebote in der Schule und Möglichkeiten der informellen und non-formalen Bildung zu nutzen und zu verbessern. Andererseits werden diese Maßnahmen durch schulstrukturelle Aspekte und Fragen von Bildungsbenachteiligung überlagert.
Laufzeit: April – Oktober 2007
In dem Projekt werden Bildungs- und Erwerbsverläufe von Absolventinnen und Absolventen von Bildungsgängen des „unteren“ beruflichen Bildungssystems in Reutlingen und Tübingen erforscht. Dabei handelt es sich vorwiegend um (ehemalige) Schülerinnen und Schüler des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) und von Sonderberufsfachschulen. In diesen Schulen befinden sich überwiegend junge Frauen und Männer mit Bildungsverläufen in der allgemeinbildenden Schule, die ihnen kaum Chancen auf einen direkten Einstieg in eine Berufsausbildung bieten, mit mäßigen Erfolgen in der Schule, häufig auch ohne Hauptschulabschluss.
Das Projekt ist als Längsschnittstudie angelegt. Dabei werden quantitative Erhebungen zu Bildungs- und Erwerbsverläufen benachteiligter junger Menschen und qualitative Interviews zu Bewältigungsstrategien benachteiligter junger Menschen im Prozess von der Schule in Ausbildung und Erwerbsarbeit durchgeführt. Das Projekt hat mit einer schriftlichen Befragung des BVJ-Jahrgangs 2005/06 an Reutlinger und Tübinger Berufsschulen im Frühjahr 2007 gestartet, eine telefonische Nachbefragung wurde im Sommer 2007 durchgeführt. Als zweite Kohorte sind im Sommer 2007 Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2006/07 ein BVJ oder eine Sonderberufsfachschule in Reutlingen und Tübingen besucht haben, befragt worden. Neben diesen quantitativen Befragungen werden qualitative Interviews mit Jugendlichen aus beiden Kohorten durchgeführt.
Das Modellprojekt „Lebenskunst lernen – mehr Chancen durch kulturelle Bildung“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. hat zum Ziel auszuloten, wie bildungsbenachteiligte Jugendliche durch Angebote der kulturellen Jugendbildung in Kooperation von Trägern der kulturellen Jugendbildung mit Schulen im unteren Bildungsbereich der Sekundarstufe I gefördert und wie dadurch Zugänge zu kultureller Bildung geschaffen werden können. Dazu werden in dem Projekt 16 Kooperationsprojekte ausgewählt und von 01.07.2008 bis 30.06.2009 fachlich und finanziell mit Mitteln des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt.
In der wissenschaftlichen Begleitung werden Fragen der Entwicklung der Jugendlichen, die an den Projekten der kulturellen Jugendbildung beteiligt sind, und Fragen der Schulkultur bearbeitet. Dabei werden aktuell diskutierte bildungspolitische Fragen aufgegriffen und bearbeitet. Im Projekt wird deshalb danach gefragt,
a) welchen Beitrag Angebote kultureller Jugendbildung für Bildungsprozesse von Jugendlichen in sozial benachteiligten Lebenslagen an Haupt- und Förderschulen leisten können und worin der spezifische Ertrag dieser Angebote für die Entwicklung der Jugendlichen besteht und
b) welche Wirkungen auf Schulkultur durch Projekte kultureller Jugendbildung an der Schule beobachtbar sind.
In der wissenschaftlichen Begleitung werden somit zwei Themenschwerpunkte bearbeitet, der erste befasst sich mit Bildungsprozessen und Kompetenzerwerb der Jugendlichen, der zweite mit Schulkultur und Schulentwicklung.
Da im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung nicht alle 16 Kooperationsprojekte gleichermaßen vor Ort besucht und evaluiert werden können, werden vier Projekte ausgewählt, am Beispiel derer der Prozess genauer dokumentiert und ausgewertet werden soll. Darüber hinaus werden alle 16 Kooperationsprojekte in die wissenschaftliche Begleitung in Form von schriftlichen Befragungen und Diskussionen auf den Werkstatt-Treffen einbezogen.
Gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung im Netzwerk Bildungsforschung (2017 - 2019)
Ergebnisse des Forschungsprojekts
In diesem Projekt ist danach gefragt worden, wie sich Lernprozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Produktionsschulen gestalten. Lernen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Produktionsschulen ist in einer zweifachen Perspektive in den Blick genommen worden: Gefragt worden ist erstens nach dem Lernen in den Arbeitsprozessen in den Werkstätten und Arbeitsbereichen der Produktionsschule. In dieser Perspektive ging es im Projekt darum, nach einer Didaktik der Produktionsschule zu fragen und Anhalts- und Eckpunkte für förderliche Lernbedingungen in Produktionsschulen herauszukristallisieren. Mit Blick auf Lernprozesse der Jugendlichen ging es dabei um die Frage, wie Wissen und Kompetenzen für die Arbeit in den Werkstätten erworben werden können; in dieser Perspektive wird die Frage nach Lernen in der Produktionsschulen auf den Erwerb von fachlichen, instrumentellen und methodischen Kompetenzen fokussiert. Als wichtige Elemente einer Didaktik der Produktionsschule erwiesen sich dabei förderliche Strukturen und tragfähige, vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen zwischen Anleitenden und Produktionsschülerinnen und -schülern.
Gefragt worden ist zweitens nach Lernen in einer biographischen Perspektive. Jugendliche und jungen Erwachsene, die als Produktionsschülerinnen und -schüler in einer Produktionsschule arbeiten, bringen in der Regel schwierige und belastete biographische Erfahrungen in der Schule und im Bildungssystem, im Übergang in Ausbildung und Arbeit und in ihren Lebenswelten mit in die Produktionsschule. Erfahrungen des Scheiterns in der Schule, des Ausgegrenzt-Werdens, brüchige Schul- und Bildungskarrieren und prekäre Übergänge in Ausbildung und Arbeit sind in vielen Biographien der Jugendlichen, die eine Produktionsschule besuchen, zu finden. Das zeigte sich auch bei vielen in das Projekt einbezogenen Jugendlichen. Abbrüche und Scheitern in der Schule und multiple Problemlagen (sozial, psychisch, familiär, schulisch) kennzeichnen viele Lebensläufe der Jugendlichen. Schwierige Schul- und Bildungsverläufe und belastende und benachteiligende biographische Erfahrungen führen oft dazu, dass ein Einlassen auf formale Bildung und Arbeitsprozesse in der Berufsvorbereitung oder im Betrieb nicht möglich ist oder zumindest sehr erschwert. Kontraproduktive Verhaltensweisen, Abbrüche in der Schule und Scheitern im Übergang in Ausbildung und Arbeit sind häufig eine Folge solch ungelöster und schwierigen biographischen Erfahrungen. Damit ein Sich-Einlassen auf Lernen in der Produktionsschule überhaupt möglich ist, muss eine Passung zwischen institutionalisiertem Lebenslauf und Biographie ermöglicht und hergestellt werden.
Im Projekt richtete sich das Interesse deshalb auf Bewältigungsmuster und das Bewältigungshandeln der Jugendlichen. Bei der Interpretation des empirischen Materials ist danach gefragt worden, mit welchen Bewältigungsmustern die beteiligten Jugendlichen in die Produktionsschule gekommen sind, ob ein Aufbau neuer Bewältigungsmuster erkennbar ist und wie diese neuen Formen der Bewältigung aussehen. Als dominante Bewältigungsmuster, mit denen die beteiligten Jugendlichen in die Produktionsschule gekommen sind, konnten zwei Typen rekonstruiert werden: Wehren gegen Strukturen und aktives Scheitern (Typ 1) und Passivität gegenüber Strukturen und Selbstzuschreibung der Schuld für Scheitern (Typ 2). Ein Ergebnis der Studie besteht darin, dass während der Zeit in der Produktionsschule alte Bewältigungsmuster aufgebrochen werden und neue Formen der Bewältigung entstehen. Sie weisen einen höheren Grad an Aktivität auf und konstruktive Formen der Auseinandersetzung mit Herausforderungen, auch in Bezug auf den Übergang in Ausbildung und Arbeit. Das Einüben und der Aufbau neuer, konstruktiver Formen der Bewältigung können auch als Bestandteil eines Bildungsprozesses interpretiert werden, sie markieren einen Anfang, in dem das Subjekt sich in einer neuen Weise auf sich selbst und die Welt einlässt. Diese Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses markiert somit den Beginn eines neuen Bildungsprozesses. Insofern ermöglichen Produktionsschulen Bildungsprozesse in einer biographischen Perspektive durch das Ermöglichen und die Förderung des Aufbaus neuer Formen der Bewältigung.
Das Lernen in Arbeitsprozessen in der Werkstatt und neue Formen des Sich-Einlassens auf sich selbst und auf die Welt stehen in einem korrespondierenden Verhältnis. Diese Korrespondenz zwischen Lernen und Arbeiten in Produktionsprozessen und Bildung in einer biographischen Perspektive stellt einen Schlüssel dar für das Verständnis des pädagogischen und didaktischen Konzepts von Produktionsschulen.